Lateinamerika
Lateinamerika kennt hunderte indigene Sprachen

Nur Spanisch in Lateinamerika? Nein – über 900 Sprachen!

Mehr als nur Spanisch

Von Marius Rautenberg

Der geografische Raum Lateinamerika umfasst eine Region von der mexikanischen Grenze zu den USA bis an die Südspitze Chiles. Er ist nach dem Namen der alten römischen Sprache Latein benannt. Warum ist das so? Und spricht man in Lateinamerika wirklich nichts Anderes als Spanisch und Portugiesisch?

Was heißt Lateinamerika überhaupt?

Nach der gängigen Definition im deutschen Sprachraum werden die überwiegend spanisch- und portugiesisch-sprachigen Länder Amerikas als Lateinamerika betrachtet – denn spanisch und portugiesisch stammen vom Lateinischen ab. Nach dieser Logik müssten aber auch die französischsprachigen Länder Haiti und Französisch-Guayana Teil Lateinamerikas sein. Diese Definition ist in den USA weiter verbreitet.  

Teilung unter Spanien & Portugal

Nach der Rückkehr Christoph Kolumbus von seiner ersten Entdeckungsreise Richtung Lateinamerika wurde 1494 der „Vertrag von Tordesillas“ ausgehandelt. Dabei zogen die beiden führenden Seemächte Spanien und Portugal auf einer Karte einen Strich mit einem Lineal quer durch Südamerika. Westlich dieser Linie sollten die spanischen Kolonialherrscher*innen ihre Stützpunkte errichten. Östlich davon die portugiesischen. Darin liegt die Ursache, dass heute in Brasilien Portugiesisch gesprochen wird, in den meisten anderen Ländern Süd- und Mittelamerikas Spanisch.

Die Verschiedenheit des Spanischen

Spanisch ist nicht gleich Spanisch. Es kann auf ganz unterschiedliche Weise gesprochen werden. Die Menschen in Madrid, Buenos Aires und Lima sprechen zwar alle Spanisch und können sich verstehen, trotzdem gibt es einige Unterschiede. Das Standardspanisch wird auch als "castellano" bezeichnet, da es aus Kastilien (Spanien) kommt. Es ist nur eine von mehreren Sprachen Spaniens, etwa neben Katalanisch oder Galizisch.

Zwischen dem europäischen und dem lateinamerikanischen Spanisch gibt es nicht nur Unterschiede bei den Vokabeln, sondern auch bei der Aussprache und sogar der Grammatik. In Spanien verwendet man das Wort "coche" (=Auto), in Lateinamerika wird es jedoch mit "carro" übersetzt. C und Z werden in Spanien oft wie ein englisches „th“ gesprochen, insbesondere in Argentinien mit S. Typisch für Lateinamerika ist außerdem, dass die 2. Person Plural "vosotors" durch "ustedes" ersetzt wird.

Auch spanisch- und portugiesischsprache Menschen können sich einigermaßen verständigen, da es viele Ähnlichkeiten zwischen den beiden Sprache gibt. Im Portugiesischen wird "sagen" mit "dizer" übersetzt, im Spanischen heißt es "decir".

Über 900 indigene Sprachen in Lateinamerika

Der Begriff "Indigene Bevölkerung" fasst in Lateinamerika eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe zusammen: Wir reden hier von über 400 unterschiedlichen ethnischen Gruppen und Völkern, die über 900 verschieden Sprachen sprechen. Manche davon werden nur in kleinen Dorfgemeinschaften im Regenwald-Gebiet gesprochen. Andere sind weit verbreitete Sprachen großer Volksgruppen.  

37 Amtssprachen in Bolivien

Der Anteil indigener Bevölkerung ist insbesondere in den Anden und in Mexiko sehr hoch. Quechua ist weit verbreitet in dem Hochland Lateinamerikas. In Mexiko und Teilen Guatemalas findet man Entlehnungen aus dem Nahuatl, z.B. "aguacate" (=Avocado). In Bolivien gibt es 37 indigene Amtsstpachen, darunter Aymara, Quechua und Guaraní. Letzteres wird in Paraguay auch von einer Mehrheit gleichberechtigt mit dem Spanischen gesprochen.  

Soziale Schranken

Bei ihrer Kolonialisierung scherten die Europäer alle „Ureinwohner*innen“ über einen Kamm. Ethnisch gesehen ist die Bevölkerung der lateinamerikanischen Staaten viel gemischter als es die Begriffsabgrenzung „indigen“ und „europäisch“ vermuten lässt. Doch die sozialen Schranken bestehen fort, die indigen Bevölkerung nimmt noch immer eine eher niedrige soziale Stellung ein. Erschreckend ist auch der Rückgang der indigenen Sprache: Zur Zeit der Eroberung gab es in Kolumbien fast 300 verschiedenen Sprachen, mittlerweile gibt es nur noch 56 Sprachen! Ab Ende des 20. Jahrhundert erkannte man die kulturelle Bedeutung des indianischen Erbes und seitdem gibt es Bestrebungen, die indigenen Sprachen wieder aufzuwerten und im Schulunterricht zu fördern.

Über 10 verschiedene Varianten von Quechua  

Quechua ist die Sprache des ehemaligen Inka-Königreichs. Am stärksten ist sie im südlichen Peru verbreitet. Neben dieser Hauptvariante des südlichen Quechua existieren mehrere Dialekte, die zum Teil in eigene Sprachen wie dem ecuadorianischen Kichwa übergehen. Die gesamte Sprachfamilie Quechua hat über 10 verschiedene Mundarten, die von insgesamt etwa 9 Millionen Menschen gesprochen werden. Es ist damit nach Spanisch und Portugiesisch die größte Sprachgruppe Lateinamerikas. In manchen Regionen Perus ist der zweisprachige Schulunterricht in Spanisch und Quechua verpflichtend. Nachdem jahrelang Quechua als minderwertig galt und vom Spanischen verdrängt wurde, erlebt es allmählich wieder eine Aufwertung.  

Kichwa in Ecuador

Das überwiegend in Ecuador gesprochene Kichwa ist eine Variante des Quechua. Die Inka eroberten das heutige Ecuador und brachten ihre Sprache mit. Der Wortschatz ist nahezu gleich geblieben. Bei der Aussprache und Grammatik gibt es jedoch deutliche Unterschiede. In einigen Regionen Ecuadors gibt es Schulen die gleichberechtigt auf Spanisch und Kichwa lehren. Es gibt jedoch keinen flächendeckenden Unterricht. Die Sprache ist auf dem Rückzug und wird immer stärker durch Spanisch abgelöst. Heute gibt es nach verschiedenen Angaben nur noch zwischen 500.000 und 2 Millionen Menschen, die Kichwa sprechen. Der Unterschied von (südlichem) Quechua und Kichwa zeigt sich etwa in diesem Beispiel für den Satz „Ich liebe dich“: Quechua: Munaykim. Kichwa: Kanta munanimi.